Costa Concordia: Warum das Schiff wirklich sank
Empirische Fallkonstruktion der Havarie der Costa Concordia deckt bisher unbekannte Einzelheiten des Unfallablaufs auf und zeigt, dass die Verantwortung für das Schiffsunglück nicht allein auf den Kapitän übertragen werden kann
Wiesbaden, 14. November 2014
Nachdem die Costa Concordia Ende Juli in Genua eintraf, konnte vor zwei Wochen bei den Abwrackarbeiten das letzte Opfer identifiziert und geborgen werden. Das Kreuzfahrtschiff der italienischen Reederei Costa Crociere kollidierte im Januar 2012 beim Versuch, die Mittelmeerinsel Giglio zu passieren, mit einem Felsen und lag seitdem nördlich der Insel auf Grund. Die Empörung über den Unfall hatte einen klaren Adressaten, wie Anna Culjak bestätigt: „Schnell war in den Massenmedien ein Kapitän gefunden, der sein Schiff ‚wie einen Ferrari‘ manövriert und für die 32 Todesopfer verantwortlich ist.“ In ihrer empirischen Fallkonstruktion über die Havarie der Costa Concordia deckt die Soziologin bisher nicht bekannte Einzelheiten des Unfallablaufs auf und zeichnet damit ein differenzierteres Bild. So verursachten vor allem illegale Praktiken der gesamten Besatzung an Bord das Schiffsunglück, und Versäumnisse des Krisenmanagements an Land ließen den Unfall zur Krise eskalieren. Diese Regelverstöße wurden aus ökonomischen Gründen informal geduldet und aufgrund fehlender Sanktionen als normal statt als Sicherheitsrisiko wahrgenommen. Culjaks Studie Organisation und Devianz ist gerade bei Springer VS erschienen.
Anhand einer Dokumentenanalyse zeigt Anna Culjak, dass die Massenmedien schnell den Kapitän der Costa Concordia als Verantwortlichen identifizierten und die Reederei Costa Crociere sich zumindest teilweise der Verantwortung entzog, indem sie diese personelle Zurechnung übernahm: „Die Medien schrieben Kapitän Schettino Charakterschwächen (‚hatte eine Geliebte‘) und kriminelle Energie (‚manövrierte unter Drogeneinfluss‘) zu, so dass er als Sündenbock fungierte.“ Durch die detaillierte Rekonstruktion des Unfallablaufs zeigt die Studie jedoch, dass der Kapitän sich so verhielt, wie es von der Reederei informal erwartet wurde. Zudem erstattete er sehr schnell nach der Felsenkollision beim firmeneigenen Krisenmanagement Unfallbericht und hatte vielfach telefonischen Kontakt. Die Informationen wurden aber nicht an die Einsatzzentrale der Küstenwache weitergegeben. Damit habe zum Beispiel auch das Krisenmanagement an Land gegen Sicherheitsnormen verstoßen.
Darüber hinaus dokumentiert Anna Culjak, dass die Verkopplung illegaler Praktiken an Bord der Costa Concordia die Havarie verursachte. So beschleunigte zum einen das illegale Öffnen von Schottentüren auf See die Überflutung und erschwerte somit die Evakuierung der Passagiere. Die belegte auch das Institut für Entwerfen von Schiffen und Schiffssicherheit Hamburg-Harburg durch die Berechnung eines Simulationsmodells. Zum anderen wurde die „Verneigung“ als Küstenannäherung nicht nur 2012 auf der Costa Concordia ausgeführt, sondern – nachweislich in Kenntnis der Reederei – auch schon im Jahr davor. Das Wissen um diese verbotene Praktik wurde unter den Besatzungsmitgliedern intern weitergegeben, so die Autorin weiter: „Vom Maschinisten über den Kadett bis zum Navigationsoffizier wusste die Besatzung Bescheid, selbst diejenigen, die erst seit kurzem auf dem Schiff angestellt waren.“ So sei das protestfreie Tolerieren von Vorschriftsverletzungen auf der Costa Concordia zur bewährten Routine geworden und entfaltete sich an Bord zu einer Kultur der Regelabweichung.
Auf Basis systemtheoretischer Elemente lassen solch normabweichende, aber informal geduldete Praktiken auf zentrale Zweckkonflikte schließen, argumentiert Culjak. So sei im expandierenden Kreuzfahrtmarkt die Konkurrenz gestiegen. Die Attraktivität einer Reise zu erhöhen, sei daher häufig wichtiger als die Sicherheitsstandards einzuhalten: „Touristische Routen wie die ‚Verneigung‘ im toskanischen Archipel werden als Erlebnis propagiert und tragen damit zur Kundenbindung bei.“ Außerdem gebe es eine Tendenz zum Bau immer größerer Schiffe, auf denen ein Konflikt zwischen der Einhaltung von Sicherheitsvorschriften und der effizienten Gestaltung der Betriebsabläufe bestehe: „Auf der Costa Concordia wurden zum Beispiel entgegen internationaler Solas-Konventionen Schottentüren auf See geöffnet, um sowohl Wasch- als auch Speise- und Getränkeservice für die Passagiere wie auch die Besatzung zu gewährleisten.“ Culjaks Fazit ist eindeutig: „Den Kapitän, der eigenmächtig aus egoistischen Beweggründen einen riskanten Schiffskurs einschlug, gibt es nicht.“ Vielmehr habe ihre Analyse ergeben, dass die Schiffskatastrophe durch die Verkopplung informal geduldeter Normabweichungen verursacht wurde.
Anna Culjak studierte Soziologie an der Universität Bielefeld. Während ihres Studiums befasste sie sich insbesondere mit interaktionssoziologischen Konzepten und Methoden der empirischen Sozialforschung.
Anna Culjak
Organisation und Devianz
Eine empirische Fallrekonstruktion der Havarie der Costa Concordia
2014, 208 S., 8 Abb.
Softcover € 34,99 (D) | € 35,97 (A) | sFr 44,00 (CH)
ISBN 978-3-658-06154-8
Auch als eBook verfügbar
Bild: Coverabbildung des neuen Buchs Organisation und Devianz von Springer VS | © Springer
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