Mehrsprachigkeit: Vom Störfall zum Glücksfall
Sprachenvielfalt der Kinder und Jugendlichen stellt Kitas und Schulen vor große Probleme | Gesteigerte Wertschätzung der Herkunftssprachen unterstützt das Erlernen des Deutschen
Berlin | Heidelberg | Wiesbaden, 25. März 2014
Einsprachig deutsche Schulklassen bilden heute die Ausnahme. Denn über 30 Prozent der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund – in Ballungsräumen sind es sogar über 50 Prozent der Schüler. Als Reaktion auf diese gesellschaftspolitische Herausforderung hat sich das Fachgebiet Deutsch als Zweitsprache (DaZ) entwickelt, das die speziellen Bedingungen beim Erwerb des Deutschen als zweite Sprache in einer deutschsprachigen Umgebung zum Gegenstand hat. Manfred Krifka, Hubert Truckenbrodt und ihr Team vom Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft in Berlin bemängeln dabei, dass bisher nur selten auf die sprachlichen Probleme von Schülern mit bestimmten Muttersprachen eingegangen wird. Mit dem neuen Fachbuch "Das mehrsprachige Klassenzimmer" von Springer VS geben sie Lehrkräften die Mittel an die Hand, diese Lücke zu schließen.
Von Albanisch bis Vietnamesisch enthält das Fachbuch Kurzbeschreibungen von 26 Sprachen, welche die oft vom Deutschen abweichenden grammatischen Eigenschaften beleuchten und auch auf die jeweiligen Sprechergruppen in der Bundesrepublik eingehen. So erklären die Autoren leicht verständlich, warum ein Kind, das in einer ukrainischsprachigen Familie aufwächst, weniger Schwierigkeiten mit dem grammatischen Geschlecht von Pronomina im Deutschen hat, dafür aber definite und indefinite Artikel unter den Tisch fallen lässt – weil diese im Ukrainischen fehlen (z. B.: Dann ist Hund gekommen, und ich habe Angst gehabt, weil Hund gebellt hat.). Einem türkischen Kind hingegen bereitet gerade das grammatische Geschlecht Probleme, weil es in seiner Muttersprache nicht vorhanden ist. Es fällt ihm also besonders schwer zu entscheiden, ob es die oder das Mädchen heißt. Und ein Spanisch sprechendes Kind hat möglicherweise mit den Umlauten des Deutschen Schwierigkeiten, die das Kind mit türkischem Hintergrund spielend meistert – dort gibt es auch das ü und das ö.
Die Herausgeber des neuen Fachbuchs sind überzeugt: "Mehrsprachigkeit ist etwas Wertvolles. Denn sie birgt viele Möglichkeiten, auch für Kinder deutscher Muttersprache." Um dieses Potenzial bestmöglich zu nutzen, geben die Wissenschaftler konkrete Anstöße für einen kreativen Umgang mit den vielen Sprachen im Klassenzimmer – nicht nur im Deutschunterricht. Pädagogen sollten die von den Schülern gesprochenen Sprachen im Unterricht aufgreifen, etwa im Rahmen von Projektarbeiten. Denn für Kinder mit fremdsprachlichem Hintergrund sei es wichtig, dass ihre Sprachen in der Schule Anerkennung erfahren. Im Gegenzug sollten die Eltern die jeweilige Muttersprache fördern – das helfe dem Deutschlernen der Kinder mehr, als der Versuch, zuhause deutsch zu sprechen. Neben diesen Maßnahmen bedarf es nach Ansicht der Beitragsautorin Rosemarie Tracy zusätzlich der Abkehr von bestehenden Vorurteilen: "Es ist höchste Zeit, die Normalität der Mehrsprachigkeit ohne Verteufelung oder Verklärung und unter Verzicht auf hinderliche Mythen und Ideologien anzuerkennen." Nur so könne sich die Mehrsprachigkeit vom Störfall zum Glücksfall entwickeln.
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