Sollten wir heute noch Jim Knopf lesen?
Jim Knopf, Gonzo und andere Aufreger: Metzler-Autor*innen veröffentlichen Buch über die rassismus- und geschlechterkritische Pädagogik und diskutieren darin über Kunst in einer hypermoralischen Zeit
Heidelberg | Wiesbaden, 09. März 2023
Ist Jim Knopf ein rassistisches Kinderbuch? Eigentlich handelt es sich bei dem Buch von Michael Ende um einen anerkannten Kinderbuchklassiker, der zudem häufig als dezidiert antirassistisches Werk gedeutet wird. Zum Gegenstand einer politischen und pädagogischen Kontroverse aber wurde das Buch 2022, nachdem eine Kindergärtnerin laut Medienberichten anhand einer von Antidiskriminierungsstellen erstellten Liste Jim Knopf-Bücher aus ihrer Einrichtung entfernte. Begründet wurde dies unter anderem mit Verweis auf die stereotypische Darstellung des Protagonisten. Sollten oder dürfen wir also Jim Knopf-Bücher noch in pädagogischen Institutionen lesen? Oder müssen wir unsere Kinder vor dieser als rassistisch qualifizierten Geschichte schützen? Haben Generationen von Leser*innen des Buches unbewusst rassistische und neokoloniale Stereotype in ihr Weltbild integriert?
Diese Fragen sind historisch nicht neu, aber in öffentlichen Debatten aktuell sehr präsent. Es melden sich zunehmend Akteur*innen zu Wort, die Kulturprodukte kritisieren, indem sie diese als Ausdruck von Rassismus, Sexismus, Kolonialismus oder Klassismus deuten. „Es geht dabei beispielsweise um Kinderspielzeug, Dreadlocks oder Schokoladenverpackungen, um Kunstwerke, Fernsehserien, Gedichte und nicht zuletzt eben um Bücher“, so Lisa Dillinger, Johannes Drerup, Phillip D. Th. Knobloch und Jürgen Nielsen-Sikora. Im Rahmen solcher engagierter Pädagogiken würden dann pädagogische und politische Vorgaben für den angemessenen und richtigen Umgang mit Kulturprodukten gemacht. Diese lassen sich aus Sicht der Autor*innen des gerade erschienenen Buches Jim Knopf, Gonzo und andere Aufreger nicht allein als Formen der politischen Bildung einordnen, sondern auch als politisch ambitionierte Erziehungsprojekte deuten.
Im öffentlichen sowie wissenschaftlichen Diskurs werden diese Phänomene oft mit unterschiedlichen Varianten einer ‚Identitätspolitik‘ in Verbindung gebracht. „Interessant an den Auseinandersetzungen ist, dass sich die Konfliktlinien politisch zwischen ‚links‘ und ‚rechts‘ kaum mehr eindeutig verorten lassen“, berichten die Autor*innen weiter. In jedem Fall aber seien solche (meta-)identitätspolitischen Debatten meist stark moralisch aufgeladen und würden kaum einen Aspekt der Lebensführung aussparen. Infolgedessen werde es dann zunehmend unklar, inwieweit damit noch sinnvolle politische, moralische und pädagogische Ziele verfolgt werden. Oder ob die Diskussionen vielmehr zum reinen Selbstzweck geworden sind und einer sich verbreitenden „Lust an der Empörung“ dienen.
Eine differenzierte Diskussion dieser Probleme steht in erziehungswissenschaftlichen Disziplinen noch aus. In ihrem Buch legen Dillinger, Drerup, Knobloch und Nielsen-Sikora jetzt eine sachliche und differenzierte Analyse der darin vorgebrachten normativen Argumentationen und ihrer Beweggründe vor. Anhand von Beispielen vom Kinderbuch Jim Knopf bis hin zu der Figur Gonzo aus der Muppetshow rekonstruieren sie die widersprüchlichen Deutungen von Kulturprodukten und stellen die damit verbundenen Bewertungen und ihre empirischen Prämissen aus der gebotenen Distanz auf den Prüfstand. Zur Debatte steht dann auch, ob und inwieweit sich zwischen legitimen und problematischen Formen engagierter sowie politisierter Pädagogik unterscheiden lässt. Und vor allem: Was folgt daraus für die Gestaltung pädagogischer Arrangements in der Praxis?
Lisa Dillinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität Zürich.
Johannes Drerup ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund und Gastprofessor an der Freien Universität Amsterdam.
Phillip D. Th. Knobloch vertritt momentan die Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Historische Bildungsforschung an der TU Dortmund.
Jürgen Nielsen-Sikora ist apl. Professor für Bildungstheorie an der Universität Siegen. Er leitet das Hans Jonas-Institut an der Universität Siegen.
Lisa Dillinger | Johannes Drerup | Phillip D. Th. Knobloch | Jürgen Nielsen-Sikora
Jim Knopf, Gonzo und andere Aufreger
2023, 178 S.
Softcover € 49,99 (D) | € 51,39 (A) | sFr 55.50 (CH)
ISBN 978-3-662-66179-6
Auch als eBook verfügbar
Bild: Coverabbildung von Jim Knopf, Gonzo und andere Aufreger | © Springer
Service für Journalist*innen
Journalist*innen erhalten auf Anfrage ein Rezensionsexemplar des Buchs Jim Knopf, Gonzo und andere Aufreger.
Kontakt
Karen Ehrhardt-Dreier | Springer Nature | Communications
tel +49 611 7878 394 | karen.ehrhardt@springer.com