Von der Wunschkoalition zur Krisengemeinschaft
Politikwissenschaftliche Bilanz erklärt, warum die schwarz-gelbe Regierung von 2009 bis 2013 kaum innenpolitische Reformen vorweisen kann
Wiesbaden, 09. Dezember 2014
Am 17. Dezember jährt sich die dritte Vereidigung von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin. Für Reimut Zohlnhöfer und Thomas Saalfeld der optimale Zeitpunkt für eine Bilanz der vorangegangenen Legislaturperiode: „Das Faszinierende an der Regierung Merkel II ist die Diskrepanz zwischen Erwartungen und Ergebnis.“ So sei die schwarz-gelbe Zusammenarbeit zwar bereits am Wahlabend 2009 beschlossene Sache gewesen. Dennoch aber wirkte die Wunschkoalition vier Jahre später wie eine Krisengemeinschaft aus einer Union, die sich längt nach anderen Machtoptionen umsah, und einer FDP, die um das politische Überleben kämpfte. Das Fazit der beiden Herausgeber des gerade bei Springer VS erschienenen Sammelbandes Politik im Schatten der Krise ist eindeutig: „Die Koalition zwischen Union und FDP zwischen 2009 und 2013 weist innenpolitisch ein bescheidenes Reformprofil auf.“ Die einzelnen Beiträge im Buch betrachteten Politikfelder von der Außen- bis zur Finanzpolitik und von der Sozial- bis zur Umweltpolitik. Die Autoren zeigen darin, dass das schwarz-gelbe Reformprojekt aufgrund der aktuellen Themenkonjunktur schon obsolet geworden war, bevor die drei Parteien überhaupt an die Macht kamen.
Schon die Koalitionsverhandlungen zwischen den Unionsparteien und der FDP waren ungeachtet ihres raschen Abschlusses härter als erwartet, so Thomas Saalfeld: „Viele Streitfragen konnten nicht durch explizite Kompromisse geregelt werden, sondern wurden auf den Regierungsalltag nach der Wahl verschoben.“ Anschließend überlagerten neue tagespolitische Herausforderungen das schwarz-gelbe Reformpaket, das vor der Wahl als die Vollendung der unter der Großen Koalition auf halbem Wege stecken gebliebenen „Wende“ angekündigt war. Am Ende der Legislaturperiode ergab sich dann ein ganz anderes Bild, fasst der Herausgeber zusammen: „Die Union und insbesondere die Kanzlerin wurden für ein anscheinend erfolgreiches Krisenmanagement in Europa und eine moderate Modernisierungspolitik belohnt, die sie in vielen Punkten näher an die SPD heranrückte, während die FDP ihre Kernwähler enttäuschte und nicht mehr in den Bundestag einzog.“ Mit der Frage nach dem „Warum“ befassen sich die Beiträge im neuen Bilanzband aus verschiedenen Blickwinkeln – teilweise aus Sicht der Parteien- und Wählerforschung, vor allem aber aus Sicht der Policy-Forschung.
Einen Grund für den innenpolitischen Stillstand der Regierung Merkel II sieht Reimut Zohlnhöfer in der verhältnismäßig gering ausgeprägten Wahrnehmung eines Reformstaus. Mit der Agenda 2010 gab es bereits einschlägige Veränderungen, die 2009 zu wirken begannen: „Die Arbeitslosigkeit sank ebenso wie die Verschuldung, ja, erste Stimmen wurden laut, die von einem Beschäftigungswunder sprachen.“ Vor diesem Hintergrund habe insbesondere die Union schnell das Interesse an Reformen verloren, die wahlpolitisch riskant sind. Darüber hinaus diktierten Krisen von außen die Regierungsagenda in ungewöhnlich großem Umfang, so der Herausgeber weiter: „Die Finanz- wurde abgelöst von der Eurokrise, der Nuklearunfall in Fukushima löste einen Wandel in der Energiepolitik aus, und außenpolitische Ereignisse wie der arabische Frühling zwangen die Bundesregierung zu kniffligen Entscheidungen – etwa hinsichtlich einer Beteiligung der Bundeswehr bei Luftschlägen gegen Libyen.“ All dies beanspruchte nicht nur die Aufmerksamkeit der Schlüsselakteure in Merkels Kabinett, sondern auch Steuermittel. Diese Ressourcen fehlten dann für innenpolitische Vorhaben, die von einer christlich-liberalen Koalition zu erwarten waren: „Besonders deutlich zeigte sich das bei der Steuerreform.“ Zusammenfassend gesagt habe damit die aktuelle Themenkonjunktur genau die Reformen verhindert, die Union und FDP zu einstigen Wunschregierungspartnern gemacht hatten: „Entsprechend ähnelte die schwarz-gelbe Koalition über weite Strecken eher einer Zwangsgemeinschaft, der die Union am Wahlabend 2013 dann folgerichtig auch keine Träne nachweinte.“
Dr. Reimut Zohlnhöfer ist Professor für Politische Wissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
Dr. Thomas Saalfeld ist Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Politikwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
Reimut Zohlnhöfer | Thomas Saalfeld (Hrsg.)
Politik im Schatten der Krise
Eine Bilanz der Regierung Merkel 2009-2013
2015, 647 S., 20 Abb.
Softcover € 59,99 (D) | € 61,67 (A) | sFr 75.00 (CH)
ISBN 978-3-658-02620-2
Auch als eBook verfügbar
Bild: Coverabbildung des neuen Buchs Politik im Schatten der Krise von Springer VS | © Springer
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